Im Jahr 2016 sorgte Geoffrey Hinton, Turing-Preisträger und führender KI-Forscher, für Aufsehen, als er prognostizierte, dass Radiologen innerhalb von fünf Jahren durch Künstliche Intelligenz ersetzt werden würden. Er verglich den Beruf mit einem Cartoon-Coyote, der von einer Klippe läuft, ohne zu merken, dass darunter kein Boden ist. Hinton argumentierte, Deep Learning würde aufgrund seiner breiteren Erfahrung menschliche Radiologen übertreffen. Ein Video seines Vortrags, in dem der KI-Forscher und Experte für Reinforcement Learning, Richard Sutton, zustimmend nickt, verbreitete sich viral.
Die Realität hat sich anders entwickelt. Entgegen Hintons Prognose zeigt sich, dass KI Radiologen unterstützt, anstatt sie zu ersetzen. Institutionen wie die Mayo Clinic demonstrieren dies eindrucksvoll. Die Anzahl der Radiologen an der Mayo Clinic ist seit 2016, dem Jahr von Hintons Aussage, signifikant gestiegen – von rund 260 auf über 400, ein Zuwachs von 55 Prozent. Gleichzeitig setzt die Klinik mittlerweile über 250 KI-Modelle in ihrer radiologischen Abteilung ein, einige davon selbst entwickelt, andere von externen Anbietern. Viele dieser Tools finden auch in der Kardiologie Anwendung. Die Systeme beschleunigen die Bildanalyse, markieren verdächtige Bereiche und helfen bei der Erkennung von Erkrankungen wie Blutgerinnseln oder Tumoren. Ein Modell misst beispielsweise automatisch das Nierenvolumen – eine Aufgabe, die früher zeitaufwändig manuell erledigt werden musste.
Dr. Matthew Callstrom, Leiter der radiologischen Abteilung der Mayo Clinic, beschreibt KI als ein zweites Augenpaar. Sie kann repetitive Aufgaben übernehmen, aber nicht die klinische Beurteilung, die in Einzelfällen erforderlich ist. KI-unterstützte Arbeitsabläufe gehören laut Callstrom mittlerweile zum medizinischen Alltag.
In einem Interview mit der New York Times räumte Hinton kürzlich ein, dass er sich zu sehr auf die Bildanalyse konzentriert und die Geschwindigkeit der Entwicklung des Feldes überschätzt habe. Die allgemeine Richtung sei zwar richtig gewesen, so Hinton, aber anstatt Radiologen zu ersetzen, mache KI sie "viel effizienter und verbessere zusätzlich die Genauigkeit".
Hintons Fehleinschätzung dient als warnendes Beispiel. Viele aktuelle Behauptungen – wie die von OpenAI-CEO Sam Altman –, dass KI bald ganze Berufe ersetzen wird, neigen zur Vereinfachung. Sie unterscheiden oft nicht zwischen der Automatisierung oder Unterstützung einzelner Aufgaben und der Eliminierung ganzer Berufsgruppen, ähnlich wie Hinton es 2016 tat, als er die Radiologie auf die Bildanalyse reduzierte.
Selbst wenn eine groß angelegte Automatisierung technisch machbar wäre, dürften kulturelle, organisatorische und rechtliche Faktoren ihre Umsetzung verlangsamen. Für KI-Forscher gibt es eine umfassendere Erkenntnis: Verallgemeinernde Vorhersagen über Berufe, die sie möglicherweise nicht vollständig verstehen, sollten vermieden werden. Nicht, weil es besonders kostspielig ist, sich zu irren – nur wenige werden jemals zur Rechenschaft gezogen –, sondern weil es Respekt gegenüber den Menschen zeigt, die diese Berufe mit ihrer Expertise und Verantwortung ausüben. Hätte die Medizin 2016 tatsächlich Hintons Rat befolgt und aufgehört, Radiologen auszubilden, könnten die Folgen für die Patientenversorgung heute schwerwiegend sein.
Bibliographie: https://the-decoder.com/geoffrey-hintons-wildly-overconfident-ai-prediction-failed-now-its-a-lesson-in-humility/ https://the-decoder.com/author/matthias-bastian/ https://www.linkedin.com/company/b-ta-ai https://www.reddit.com/r/singularity/comments/17l5u60/geoffrey_hinton_on_radiology_what_do_you_think/ https://www.technologyreview.com/2021/04/16/1021871/geoffrey-hinton-glom-godfather-ai-neural-networks/ https://x.com/geoffreyhinton/status/1653687894534504451 https://blog.biocomm.ai/2025/04/26/ai-pioneer-geoffrey-hinton-says-world-is-not-prepared-for-whats-coming-cbs-mornings/ https://www.youtube.com/watch?v=qyH3NxFz3Aw https://www.reddit.com/r/programming/comments/134nyg2/geoffrey_hinton_the_godfather_of_ai_quits_google/ https://www.technologyreview.com/2023/05/02/1072528/geoffrey-hinton-google-why-scared-ai/